„Wenn ich loslasse, was ich bin, werde ich zu dem, was ich sein könnte. Wenn ich loslasse, wer ich bin, bekomme ich, was ich brauche.“
Lao Tzu
Dieses Zitat enthält die gesamte Essenz von Aparigraha. Der Sanskrit-Begriff ist am ehesten mit dem Wort „Nicht-Anhaftung“ zu übersetzen. Das yogische Konzept, das auch in den Yamas und Niyamas (den Geboten und Verboten in den alten vedischen Schriften) beschrieben wird, befreit uns vom Leid. Es fordert uns dazu auf, uns ständig vor Augen zu führen, dass wir in jedem Augenblick alles haben, was wir brauchen. Nichts aus dem Außen kann uns je vervollständigen, da wir bereits vollständig sind.
Ausmisten befreit
Aber darauf zu achten, an welchen materiellen Dingen wir festhalten, kann schon viel in uns verändern und unsere Tendenz, Dinge zu horten, abschwächen. Wenn wir es schaffen, unseren inneren aber auch unseren äußeren Raum zu entrümpeln, kann Energie – oder Prana – leichter und freier fließen. Und damit kreieren wir Raum für alles, was das Universum sonst noch für uns bereithält. Wir erlauben uns damit ein Leben im Flow.
Viele denken jetzt vielleicht an Mönche oder Nonnen, die alle weltlichen Besitztümer ablehnen und ihr Leben nur noch dem Dienen anderer widmen. Für die Mehrheit von uns ist das mit Sicherheit nicht die Berufung. Wir wählen stattdessen, mit unseren Familien, in bequemen Wohnungen mit allen möglichen Annehmlichkeiten zu leben. Aber das Konzept des Aparigraha ist nichts desto trotz relevant für uns alle. Denn entscheidend ist unsere Geisteshaltung gegenüber diesen materiellen Dingen: Wenn wir diese in Dankbarkeit annehmen und uns dabei immer auch vor Augen führen, dass wir sie nicht mit ins nächste Leben nehmen können, und vor allem, dass sie uns nicht zu dem machen, wer wir sind, erfüllen wir das Yama (oder Gebot) des Aparigraha, also der Nicht- Anhaftung, bereits sehr gut.
Leben im Jetzt
Lao Tzu sagt: „Wenn wir realisieren, dass alle Dinge vergänglich sind, gibt es nichts, woran wir festhalten möchten.“
Je früher sich diese Idee in uns festigt, desto leichter fällt es uns, ein ausgeglichenes und glückliches Leben zu führen. Sich an materiellen Besitz, andere Menschen, Erwartungen, Erinnerungen oder Zukunftspläne zu klammern, zwingt uns, aus der Gegenwart und dem gegenwärtigen Moment auszutreten. Dies wiederum erzeugt gleichzeitig Unruhe und Ängste, weil wir nicht wollen, dass sich Dinge oder bestimmte Situationen verändern. Soll bedeuten: Wenn wir die Freude, die uns Erlebnisse, Beziehungen und Objekte in unserem Leben bringen, genießen können, ohne daran festzuhalten und dabei jeden Moment ganz bewusst wahrnehmen, leben wir das Gebot des Aparigraha.
Unser Atem lehrt uns dieses ständig wiederkehrende Loslassen sehr anschaulich: Jeder Atemzug beginnt mit einem leeren Raum, der sich anfüllt. Der Atemzug endet und muss letztlich wieder weichen. Wir können schlichtweg keinen Atemzug ewig halten! Der Versuch, dies zu tun, erzeugt Leid, Angst und Beklemmung. Aber die pure Beobachtung des Wunders Atmung – das Gewahrsein in jedem Augenblick – bringt uns tiefen Frieden. Vielleicht sogar Freude. Yoga ist daher kein Work-Out, sondern ein Work-In! Und darin liegt der Schlüssel unserer spirituellen Praxis. Wir lernen, unsere Herzen zu öffnen und den Fokus darauf zu richten, wer wir bereits sind und nicht, wer oder was wir einmal sein könnten.